Heimatverein »Dorothea Viehmann« Kassel-Niederzwehren e.V.

Vor einiger Zeit kontaktierte mich ein Student der Universität Kassel und bat mich als Vorsitzenden  des Heimatvereins und ehemaligen Stadtplaner um Rat bei der Erstellung einer Studienarbeit im Fachgebiet Architektur. Bei unserem Treffen am Grunnelbach erzählte er mir von seiner Verbundenheit mit dem Märchenviertel durch seine Familiengeschichte. Er erklärte mir seine Studienaufgabe, einen Neubau in die alte Dorfstruktur zu integrieren. Hierfür hatte er die ehemalige Mühle am Grunnelbach in Abstimmung mit der Familie Rehbein ausgewählt.

Aufgrund langjähriger Erfahrung mit Studenten in den Anfangssemestern war ich zunächst etwas skeptisch, aber das Konzept und die Ernsthaftigkeit, mit der er sein Vorhaben anging, haben mich dann schnell überzeugt. Nach mehreren Gesprächen und dem Besuch der Ausstellung an der Uni Kassel, in der die Projektarbeiten präsentiert wurden, überreichte er mir die in einem kleinen Band zusammengefasste Arbeit. Diese möchte ich Ihnen hier im Heimatbrief in Auszügen vorstellen und Ihnen somit vom Märchen in der heutigen Zeit berichten, die möglich werden, wenn man der Fantasie Raum gibt.

Klaus Rasquin

Heimatbrief.67.2023.2 66 1

Aufgabenstellung:

Ihr habt nun alles an Rüstzeug an die Hand bekommen, welches euch dabei helfen kann, einen schlüssigen und spannenden Entwurf zu entwickeln. Aus euren Inspirationen, gedachten Räumen und gebauten Strukturen entwickelt ihr einen Raum. Wir setzen euch zwei Rahmenbedingungen:

  • max. 50 m²
  • Grundstück im Raum Kassel

Die Suche nach einem geeigneten Standort für meinen Entwurf in Kassel hat mich – eher zufällig – zurück in die Vergangenheit, in meine Kindheit geführt. Sie hat mich auf einen Weg durch den Stadtteil Niederzwehren geleitet. Ich bin oft auf diesem gemeinsam mit meinen Großeltern mit dem Fahrrad gefahren, um von Oberzwehren aus in die Karlsaue zu gelangen. Dort spielten wir Minigolf und aßen im Anschluss an der Gärtnerplatzbrücke am Eiswagen bei dem netten Italiener ein Eis. Ciao, die Kugeln waren wirklich groß und das Stracciatella- Eis hatte riesige Schokoladenstücke!

Der Streckenabschnitt in Niederzwehren ist mir damals stets der Liebste gewesen. Dort gibt es verwinkelte Gassen, Fachwerkhäuser zur Rechten und zur Linken und mit Kopfstein gepflasterte Straßen mit ruckelnden Steinen, über die ich nur allzu gern mit dem Fahrrad gefahren bin. Und dort gibt es eben auch jenen Teil des Weges, der am Grunnelbach entlang am ehemaligen Haus der Märchenerzählerin Dorothea Viehmann (Foto rechts) vorbeiführte. Die Erinnerungen an diese Zeit in meiner Kindheit mit der Fahrt auf dieser Strecke gleichen einem Märchen – für ein paar hundert Meter fühlte ich mich dort wie in einer Märchenwelt, wie ich sie mir in meinem Kopf ausmalte.

So gut mir diese Erinnrungen, teilweise mit kleinsten Details, auch erhalten geblieben sind und es auch immer bleiben werden, so bin ich mir doch nie wirklich intensiver über das Gebäude (Foto links) auf der gegenüberliegenden „Uferseite“ des Baches bewusst geworden. Und in keiner Weise dachte ich daran, dass dieser Ort einmal architektonisches Potenzial für meinen Entwurf als (Architektur-)Student bieten könnte.

Dann aber, mit dieser Aufgabe im Studium, dem ersten Strukturfoto und der darauf basierenden Analyse, fügte sich dieser Ort aus meinen Erinnerungen in mein heutiges Leben wieder ein: Die Wahl einer Baulücke lag nahe, „da diese nie gerade bzw. geradlinig ist und sich immer in einen Bestand einfügen muss”. Bei der Wahl des Ortes spielte außerdem eine Rolle, dass ich ausgebildeter Gärtner bin – und vor diesem Hintergrund möchte ich vermeiden, wo immer es geht, weitere Flächen zu versiegeln. Wir befinden uns schließlich auch im Studio Anderhalten „Entwerfen im Bestand” – und der respektvolle und dabei kreativ-perspektivische Umgang mit Bestandsobjekten ist für mich Grundvoraussetzung meines Architekturstudiums.

In meinem Verständnis ist das Haus der Zukunft das Haus von gestern. Denn wir können es uns schlichtweg nicht mehr leisten, wichtige Ressourcen zu verschwenden und bestehende nicht zu nutzen. Der Bestand hält darüber hinaus oftmals eine Reihe an Werten, Geschichte(n) und Vorzügen inne, die dem Raum unbezahlbare Atmosphäre und Sinnhaftigkeit geben. Der Entwurf bzw. das Raumkonzept kann also nicht ohne den Standort nebst seiner Historie und Potenziale existieren und betrachtet werden. Stattdessen muss er in seiner Ganzheit begriffen werden und auch greifbar sein.

Heimatbrief 2023-2 68 1

Objektbeschreibung:

Das Grundstück Grunnelbachstraße 23 ist im Grundbuch Flur 20 Flurstück 73/1 eingetragen und mit den relevanten Bestandsgebäuden wie folgt bebaut:

  • 3-geschossiges Mühlengebäude in Massivbauweise zum Teil unterkellert (2)
  • 2-geschossige Scheune teils massiv, teils Fachwerk (3)
  • 1-geschossiger Zwischenbau (4)

Das Grundstück ist ursprünglich landwirtschaftlich mit Wohngebäude, Stallungen und Scheune, genutzt worden. Das Wohngebäude wurde im 2. Weltkrieg total zerstört und stand auf dem jetzt freien Grundstücksteil im Süd/Osten. In der Zeit um den 1. Weltkrieg wurde die Scheune erweitert, 1923 das Mühlengebäude errichtet und eine Mühleneinrichtung installiert. Es entstand eine Mühle, zu der die Landwirte, darunter mein Großvater, das Getreide vom Feld brachten. Das Werkstattgebäude ist vermutlich schon immer separat als Stellmacherei (Wagnerei) genutzt, später wahlweise als Lager in den Mühlenbetrieb einbezogen. Danach wurde die Holzbearbeitung in das Erdgeschoß der Scheune verlegt.

1907 ist der Grunnelbach aufgestaut und ein Mühlenrad für Wasserkraftgewinnung eingebaut worden, zunächst für die Stellmacherei, später auch für den Mühlenbetrieb. Der jetzige Eigentümer hat im Erdgeschoß der Scheune eine Schreinerei eingerichtet und lässt die Räume in den übringen Gebäuden einschließlich des Mühlengebäudes weitgehend ungenutzt.

In der Lücke (4) eben jener beiden Bestandsgebäude soll ein Raum entstehen der sich einfach aber bestimmt in die Lücke einfügt und aus ihr hervortritt. Er soll sich auffällig gestaltet in den Bestand einfügen, mit ihm arbeiten, aber einen eigenen Ausdruck (Wesen) besitzen und eine Geschichte, ein Märchen, erzählen. Das Märchen basiert auf den Erfahrungen der vorbeiziehenden Fuhrleute und Reisenden und spiegelt deren Leben wider.
Das Leben mit seinem Auf und Ab; dem Krieg, der Landwirtschaft oder dem Handwerk. Es soll ein transparenter und doch geschützter Raum entstehen, ein Zufluchtsort, ein Treffpunkt, der über den Fluss hinausragend in die Stadt/Welt blickt, sie widerspiegelt und sie sowie sich selbst betrachtet. Es ist ein Teil des Ganzen, der Mühle und ein Keil im Bestand der ein Licht durch den Spalt wirft.

Heimatbrief 2023-2 69 1 

Heimatbrief 2023-2 69 2

Doro’s Stübchen

Die Suche nach einem geeigneten Standort für meinen Entwurf in Kassel hat mich zurück in meine Kindheit geführt. Uns führt der Entwurf zu Doro’s Stübchen zurück zu einer alten, neu entfachten Liebe. Den Märchen.

Die überlieferte(n) Geschichte(n) der Dorothea Viehmann bergen einen kostbaren Schatz an Lebenserfahrungen zahlloser Generationen. Sie erzählen davon, dass Leben auch unter schwierigsten Bedingungen glücken kann. Kinder lernen dabei: Es kommt nicht auf Macht, Reichtum und Schönheit an. Am Ende setzt sich das Gute durch. Und die kleinen Helden, denen anfangs niemand etwas zugetraut hat, kommen am Ende ganz groß heraus. Märchen werden so zu einer unerschöpflichen Quelle von Lebensmut und -freude.

Wir sind in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.

Der Raum selber hat in der regionalen Erfahrung eine Geschichte, und es ist unmöglich, diese schicksalhafte Kreuzung der Zeit mit dem Raum zu verkennen. Die Idee bestand darin einen Raum zu entwerfen der seiner Funktion als Märchensammlung, Rastplatz für Reisende und Versammlungsort für Führungen sowie Märchenstunden für den änsässigen "Heimatverein Dorothea Viehmann Kassel Niederzwehren e.V.” mit seinen rund 600 Mitgliedern, dienlich ist.

Es ist ein Ort des Seins, der Begegnung und des generationsübergreifenden Austausches, der in seinem Kern sowohl das Licht als auch den Schatten, die Märchen, enthält.

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